Lichterlöschen

 

Lukas wollte eigentlich nur rasch den Arzt aufsuchen.
Eigentlich wollte er sich nur schnell ’mal reparieren lassen.
Ein Medikament, leicht bekömmlich, rasch wirkend.
Wenn’s geht ohne Nebenwirkungen.
Seit Wochen fühlte er sich schlapp, hundemüde, litt nachts oft an heftigen Bauchschmerzen.
Es war an der Zeit, den Schaden beheben zu lassen. Bereits Übermorgen wäre er wieder der Alte.
Fast wie neu, voller Energie. Fähig, den positiven Stress des Lebens zu genießen.

Als Lukas in der Arztpraxis saß, merkte er, dass sie sich den Hinterhof teilten. Vom Fenster der Praxis im vierten Stock sah er sein Büro im Erdgeschoss des gegenüberliegenden Gebäudes.
Lukas sah seinen Arbeitsplatz. Er hatte vergessen, das Licht zu löschen.
Eines Tages muss jeder das Licht löschen.
„Macht nichts“, dachte er, „ich bin gleich zurück im Büro“.
Er hatte den Doktor ja nur rasch aufgesucht: Den Fehler beheben und weiter arbeiten. Die Pille gleich auf dem Rückweg ins Büro einnehmen. Die heutigen Medikamente wirken schnell, das wusste er aus der Fernsehwerbung.

Er blickte aus dem Fenster und sah das Treppenhaus seines Bürogebäudes.
Dort war er gestern auf dem Zwischenboden stecken geblieben. Sieben Treppenstufen hatten ihn völlig außer Atem, hatten ihn zur Erschöpfung gebracht.
Todmüde? Ach was, nur angeschossen! Nichts Schwerwiegendes. Eine Warnung zwar, auf die man hören musste, aber harmlos.
Er nahm das Signal seines Körpers durchaus ernst. Da war ein Fehler im System, der behoben werden musste.

Der Arzt nahm eine Blutprobe und schickte Lukas zu einer Ultraschall-Untersuchung. In der Zwischenzeit werde er überlegen, ob das Problem medikamentös behandelt werden könne, oder ob ein Spitalaufenthalt nötig sein werde.
„Medikamentös“, dachte sich Lukas. „Ich werde dem Arzt die Idee vom Spitalaufenthalt auf alle Fälle ausreden.“ Lukas war ja nicht richtig krank, nur ein bisschen müde.
Er sah den ernsten Blick des Doktors nicht, sah nicht, wie bleich ihm sein Gesicht erschien.

Der Arzt analysierte die Resultate der Blutprobe und des Ultraschalls. „Ich denke, wir sollten sie ihm Spital näher untersuchen lassen“.
Lukas antwortete, er hätte keine Zeit für einen Spitalaufenthalt. Er schaute zu seinem Büro hinüber. Er sah die Aktenberge auf dem Pult. Er hatte nämlich vergessen, das Licht im Büro zu löschen.
Der Doktor lächelte milde: „Die Gesundheit geht vor. – Außerdem habe ich sie bereits angemeldet.“
So einfach wollte sich Lukas aber nicht geschlagen geben: „Ich könnte am Samstag ins Spital eintreten“, schlug er vor. „Das gäbe mir drei Tage Zeit, um die wichtigsten Arbeiten zu erledigen.“
Der Arzt fuhr unbeirrt fort: “Ihre roten Blutkörperchen sind furchtbar klein. Wenn Sie nicht so kräftig wären, dann wären Sie jetzt bereits tot.“
Dann war Lukas wohl doch todmüde.

Er trat am selben Tag ins Spital ein. Er würde höchstens vier Tage im Krankenhaus bleiben, nahm er sich vor. Am Montag würde er wieder arbeiten gehen.
Ein wenig ausschlafen, ausspannen, weiße Laken, Frühstück am Bett, Aufbaupräparate, Vitaminspritzen, gründlicher Service-Check, das Fahrgestell auf Vordermann bringen. Interessante Zimmergenossen mit spannenden Lebensläufen, Menschen mit Gesichtern und mit Geschichten.

Aber der Spitalaufenthalt dauerte länger: Mehrere Blutinfusionen, Eisenpräparate, lächelnde Krankenschwestern, lächelnder Patient, ernste Ärzte, ausweichende Informationen.
Am Montag lag Lukas immer noch im Spital: Röntgen, Computer-Tomografie, Magenspiegelung, Biopsie, Darmspiegelung, Knochenmarkprobe. Die Mediziner wollten sich ganz sicher sein. Eine Todesdrohung spricht man nicht einfach so aus.

Schließlich versammelten sich die Ärzte zu viert um sein Bett. Vier gegen einen, so eine feige Bande. „Sie haben einen Tumor“, sagte der Chef.

Das saß.
„Tumor ist, wenn man trotzdem lacht“, dachte sich Lukas. Wenn man lacht, bezieht man eine Position außerhalb der eigenen Person. Das lindert die eigene Ohnmacht, die Verzweiflung. Man lacht über sich selbst, ohne sich selbst sein zu müssen.
Tumor ist so etwas wie Krebs, aber es tönt weniger bedrohlich.
„Heißt das, dass ich unter Umständen Krebs haben könnte?“, fragte Lukas vorsichtig. Der Chefarzt antwortete ruhig, sachlich, aber mitfühlend: „Jeder Tumor ist eine Krebserkrankung. Es geht nun darum, herauszufinden, wie bösartig er ist.“
Das musste ein Irrtum sein. „Krebs? Bestimmt nicht! Ich doch nicht!“, dachte Lukas. „Krebs befällt kranke Leute, nicht mich. Sehe ich etwa aus wie jemand, der Krebs hat?“, fragte er sich. Er sah nun wirklich nicht aus wie einer, der von Krebs befallen werden könnte.

Krebs ist nicht einfach Krebs. Es gibt Hunderte von Arten mit Dutzenden von Unterarten und vielfältigen Verläufen. Lukas’ Krebs war bösartig, hochgradig aggressiv. Nahm all’ seine roten Blutkörperchen für sich, stahl ihm seine Atemluft und seine Lebensenergie.
Seine Überlebens-Chance lag bei 25:75, statistisch gesehen.
Die statistische Wahrscheinlichkeit nütze Lukas nichts, erklärte ihm der Onkologe. Entweder er überlebe, oder er überlebe nicht. Für Lukas gebe es keine Wahrscheinlichkeitsrechnung, nur ein Entweder/Oder. Leben oder Tod.

Aber Lukas wollte das Licht nicht löschen, noch nicht.
Doch dies war auch gar nicht das Anliegen des Krebses gewesen. Er wollte Lukas doch bloss dazu auffordern, endlich zu leben, zu Atmen, seinen Körper zu fühlen, endlich Mensch statt Maschine zu sein.

Er wollte doch nur, dass Lukas mit dem Herz zu leben begänne, statt sich mit dem Kopf vor dem Tod zu fürchten.