Das Licht

 

Aurora

 

Aurora stand vor ihrem Haus. Sie trug ein elegantes, helles, grau-blaues Kleid und leichte Schuhe. Zu leicht für die Wanderung, welche sie vor sich hatte. Ihre Hände schmerzten etwas. Nur sie konnte das Licht sehen, das von ihnen ausging. Feingliedrige, aber kräftige Hände. Wenn sie bloss wüsste, wo diese Energie, dieses Leuchten in Ihren Händen herkam. Manchmal fühlten sie sich viel grösser an, als sie in Wirklichkeit waren. Manchmal fühlte sie ein starkes Kribbeln, ein Brummen in ihnen. Niemand konnte ihr sagen, wo es herkam, niemand sah es, niemand verstand sie. Niemand, ausser vielleicht der alte Mann im Wald.

Bei ihm wollte sie Rat holen.

Sie schaute ein letztes Mal zu ihrem Haus zurück, bevor sie loszog. Es stand abseits des Dorfes, talabwärts, dort, wo vor Jahrtausenden der Fluss den Hügel ausgefräst und eine Felswand hinterlassen hatte. Heute floss das Wasser allerdings viel weiter unten durch das Tal, eine sanfte Anhöhe trennte den Fluss von der Felswand.

Sie hatte ihr Haus direkt in die Felswand bauen lassen. Die hinteren Zimmer bestanden aus einer ausgebauten Höhle. Die Fassade des Hauses zeigte nach Süden, die vorderen Zimmer wurden dadurch vom Morgen bis zum Abend vom Sonnenlicht durchflutet.

 

Der Marsch zum Einsiedler würde sie nach Norden in den tiefen Wald führen. Sie liebte das von kleinen Hügeln durchzogene Gebiet, die frische Luft, das Rauschen des Windes in den Wipfeln, das bedächtige, erhabene Schaukeln der riesenhaften Tannen im Wind.

Sie kannte diesen grössten Wald des Landes gut, kannte sich mit den verschlungenen Pfaden und mit den Hauptachsen aus, die ihn durchzogen.

Dennoch war sie jeweils froh, wenn sie auf eine der Lichtungen oder der Anhöhen gelangte, wo man sich orientieren konnte. Viele der Wegweiser waren alt und verwittert, man konnte die Schriften oft überhaupt nicht mehr lesen. Einige der Schilder waren mit Zeichen beschriftet, welche nur noch ganz wenige Leute zu deuten, zu lesen vermochten. 

 

Aurora zog los. Sie liebte es, die Frische des sanften Windes im Gesicht zu fühlen, das Rascheln im Unterholz zu hören, Schatten davonhuschen, weghüpfen und fortflattern zu sehen. Und sie liebte es, nach versteckten Pflanzen und Pilzen Ausschau zu halten. Entweder man hatte die Gabe, sie zu sehen, oder man hatte sie nicht. Ein wunderschöner Fliegenpilz schien sie förmlich anzulachen. Die Wesen im Wald hielten es alle gleich: Vor den Feinden versuchte man, sich zu verstecken, den Freunden zeigte man sich in voller Pracht.

Sie kam gut voran. Es lagen etwa vier Stunden Marsch vor ihr, doch sie wurde nicht müde und ihr wurde nie langweilig.

Sie fühlte sich geborgen in dieser Umgebung, sie spürte, dass sie Teil davon war. Für ein paar Stunden konnte sie das fremde Gefühl in ihren Händen annehmen. Es war nun Teil von ihr, so wie sie Teil des Waldes war.

Einen Tag lang war sie nun zufrieden mit ihrer Gabe. Sie war eine Heilerin, ihre Hände heilten mit Licht. Einen Tag lang würde sie dieses Geschenk nun annehmen können, auch wenn sie nicht verstand, wieso gerade sie diese Kraft hatte, und woher sie kam, und überhaupt, wie das alles möglich war. Einen Tag lang fühlte sie sich nun nicht mehr verloren und einsam.

Aurora summte leise vor sich hin, während dem sie leichtfüssig den breiten Waldweg beschritt. Die Last, die sie seit Jahren zu tragen hatte, war bereits ein bisschen von Ihren Schultern gewichen. Jahrelang hatte sie sich mit diesem Talent allein gelassen gefühlt. Niemand verstand sie, niemand konnte ihr helfen. Sie musste die Verantwortung ganz alleine tragen. Und nun begann sie plötzlich zu fühlen, dass sie gar nicht alleine war, dass sie genauso ein Teil der Natur war wie die Tiere, die Pflanzen und die Pilze im Wald.

Sie musste über sich selbst lachen, als sie das Lächeln des Fliegenpilzes erwiderte und ihm einen schönen Tag wünschte.

 

 

Richard

 

Richard freute sich auf diesen Tag. Er wusste, dass es ein ganz besonderer Tag werden würde. Er wusste es vom ersten Sonnenstrahl an, der ihm durch die Baumwipfel hindurch aufs Gesicht schien. Er hatte sich so sehr auf diesen Tag gefreut, dass er im Wald übernachtet hatte. Als er sich früh morgens und kaum erholt streckte und seine steifen, verkrampften Glieder knacken hörte, war er sich allerdings nicht mehr sicher, ob das eine gute Idee gewesen war. Das Bad im kühlen Bach klärte seine Gedanken endgültig: Nein, das war jetzt eine eher blöde Idee gewesen.

Das erste, was er nach seiner Rückkehr zuhause begrüssen würde, wäre ein warmes Bad. Ganz klar.

Er war zwar Jäger, und er liebte den Wald. Aber alles zu seiner Zeit und an seinem Platz. Es gab Momente für die geistigen Dinge, aber es gab Momente, da musste man sich seinem leiblichen Wohl widmen. Es gab eine Zeit für den Ernst des Lebens, und es gab eine Zeit fürs Spiel.

Der Wald war ein Ort voller Überraschungen, war Ernst und Spiel zugleich. Grundsätzlich waren die Bäume ebenso menschenscheu wie die Tiere, aber Richard machte immer wieder höchst interessante Begegnungen hier. Im Dorf hatte man nie richtig Zeit, sich gegenseitig mehr als ein paar oberflächliche Worte zu widmen. Hier im Wald hingegen schien die Zeit keine Rolle zu spielen. Hier zeigten sich die Menschen so, wie sie wirklich waren, man brauchte nur lange genug zusammen zu sein. Lange genug, dass man nichts mehr zu besprechen hatte und sich ohne Worte zu verstehen begann. Dann war es wie mit den Bäumen. Die teilten sich immer ohne Worte mit. So war das in diesem Wald, und deshalb liebte ihn Richard so sehr.

Und er wusste genau, dass er auch heute alte Freundschaften auffrischen und neue schmieden würde, und dass sie etwas Grossartiges zusammen erleben würden. Deshalb hatte sich Richard so sehr auf diesen Tag gefreut.

Für den Notfall trug er ein altes Gewehr bei sich, doch er zog es vor, mit Pfeil und Bogen zu jagen. Er liebte es nicht, mit der Knallerei des Gewehrs die Ruhe der Bäume zu stören. Und für die Tiere war es auch weniger schrecklich, von einem stillen Pfeil überrascht zu werden. Na ja. Perfekt war das ja auch nicht, aber immerhin.

Es dauerte nicht lange, da hatte er bereits zwei Hasen erlegt. Das würde für ein feines Nachtessen reichen. Er spürte, sie würden zu viert um Claudius’ Lagerfeuer sitzen und sich das zarte Fleisch munden lassen: Claudius, dessen Tochter Martina, er selbst und eine vierte Person, die ihm noch unbekannt war. Und doch spürte Richard bereits jetzt eine eigenartige Verbindung zu dieser Person. Er spürte ein Licht, das von dieser Person aus ging. Ein Licht, das seine Quelle suchte, sich nach seiner Quelle sehnte.

Gut gelaunt marschierte der Jäger in die Tiefe des Waldes hinein. Er freute sich auf den alten Mann und dessen Tochter, und er freute sich auf die Überraschung. Das Leben war ein Spiel, und er genoss es.

  

 

Claudius

 

Die Dämmerung war bereits angebrochen, als Richard sein Reiseziel in Reichweite sah. Hier war der Wald ziemlich licht, hier lebten Laubbäume friedlich mit Tannen zusammen. Es schien, als würde der Wind sich nur selten hierher verirren.

Claudius beobachtete seinen alten Freund minutenlang, schaute einfach zu, wie dieser die leichte Anhöhe hinauf marschiert kam und sich schliesslich zu ihm an die erloschene Feuerstelle weit vor seiner Hütte setzte.

„Hey“, grüsste Richard, und Claudius sandte ein „Hey“ zurück. Der Jäger ruhte sich erst ein bisschen aus, und fuhr dann fort: „So.“. Sein Freund sagte nur „Genau, so ist es.“.

Richard musste lachen. Das war ja Kommunikation vom Feinsten: „Du mit Deinem Zwergenbart, der viel zu kleinen Jacke, der zu kurzen Hose und den komischen Stiefeln. Wem willst Du eigentlich etwas vormachen mit Deiner Maskerade? Das nimmt Dir doch keiner ab.“

 

Allerdings musste Richard zugeben, dass Claudius mit seinen Kleidern, mit dem Bart und mit seinen kurzen, hastigen und ruckartigen Bewegungen tatsächlich ein bisschen wie ein Zwerg wirkte. Er hatte seine Rolle gut eingespielt. Der Jäger nahm einen Schluck Wasser und blickte den Zwerg belustigt an. Dieser protestierte sofort: „Wieso denn? Ich bin ein Zwerg, das sieht jeder sofort. Du hast ja soeben selbst behauptet, ich hätte einen Zwergenbart! Zwerg Dürrbart, wenn ich bitten darf.“

Der Jäger lachte lauthals heraus, und er verschluckte sich dabei. „Zwerg Dürrbart!“, prustete er zwischen zwei Hustanfällen. „Zwerg Dürrbart! Ich lach’ mich gleich tot. Dieses Kinderbuch kenne ich ja gar noch nicht. Wie kommst Du bloss auf diesen Namen? Hast Du etwas gegessen?“

Richard konnte manchmal richtig blöde sein, dachte Claudius, und er sagte es auch sofort. Der Jäger entschuldigte sich übertrieben höflich und versuchte, ein ernstes Gesicht zu machen. Als er sich etwas beruhigt hatte, schaute er seinen alten Freund lange an und sagte schliesslich: „Manchmal ist es schwierig, nicht wahr?“

Claudius antwortete ernst und leise: „Ja, manchmal ist es schwierig, mit all’ dem umzugehen. Man erlebt viel, und man trägt viel zu viel mit sich herum. Und man muss allein damit fertig werden. Das macht einen nicht grösser.“

Richard starrte erst in die erloschene Asche, dann blickte er den Zwerg lange an: „Mmmh, du bist mir aber nie wie ein Zwerg vorgekommen, mein Freund. Du warst immer der Grössere, Erfahrenere und Kräftigere von uns beiden.“

Beide schwiegen sie für eine Weile. Richard spürte die Verunsicherung bei Claudius. Schliesslich fuhr der Gast fort: „Wollen wir Feuer machen? Ich habe zwei Hasen gejagt.“

Claudius’ Gesicht erhellte sich: „Zwei Hasen? Einer hätte es doch für uns drei auch getan?“

 

Der Jäger blickte seinen alten Freund belustigt an. Er antwortete nicht sofort, weil er diesen Moment geniessen wollte. Er liebte diese kleinen, wortlosen Spielchen. Das Leben ist ein Spiel. Richard schaute tief in Claudius Augen, er blickte hinter seine Maske, hinter den drahtigen Bart, hinter die dünnen Lippen, die feine Nase.

Er lachte er, und ausweichend antwortete er: „Meistens stösst jemand unverhofft zu uns, wenn wir uns hier treffen. Der Wald steckt voller Überraschungen...“

Claudius forschte weiter: „Du ahnst wohl, dass ich noch jemanden erwarte?“

„Ich sehe ein Licht“, deutete der Jäger an. Er wollte es möglichst unverbindlich tönen lassen, aber sein alter Freund fuhr dennoch unmerklich zusammen. Zu zweideutig waren diese Worte gewesen. Unsicher, fast nervös, ohne den Kopf zu wenden, blickte er nach links, in den dichten Wald hinein, der sich hinter seiner Hütte ausdehnte.

Richard fuhr fort: „Ich bin gespannt, wer sie ist. Ich freue mich. Ich will erfahren, was sie bewegt, wo sie herkommt, wohin sie geht.“

Claudius war nun sichtlich aufgeregt. Seine Stimme zitterte, er atmete laut und tief: „Ihre Ausstrahlung ist unglaublich stark, sie bringt mein Herz zum Beben. Ich liebe sie. Ich liebe sie so sehr.“ Er liess dieses Gefühl der Liebe ein paar Atemzüge lang auf sich einwirken, als müsste er es ein- und ausatmen, um es halten zu können. Richard verstand, was in seinem Freund vor sich ging. Er sah, wie die Zwergenfassade für einen Moment lang verschwand. Claudius’ wahres Ich sprengte diese Maske für eine kleine Ewigkeit weg.

Als er sich gesammelt hatte, blickte er seinen Freund an und fragte ruhig: „Und Du, wann wirst Du soweit sein?“

Richard lächelte: „Oh, weißt Du, ich habe schon oft geliebt.“

Claudius schaute Richard forschend an: „Das habe ich nicht gemeint.“

Richard verstand nicht. Richard verstand noch nicht.

 

Ein Knacken und ein Rascheln riss die beiden aus ihren Gedanken. „Sie ist da“, raunte der Zwerg seinem Freund zu. Das erste, was sie von Aurora sahen, war ihr breites, helles Lachen. Sie trat sofort in den Kreis der beiden, setzte sich gleich hin und begrüsste sie fröhlich. Kaum war sie da, gehörte sie schon dazu, es schien, als wäre sie schon immer hier gewesen. Richard war beeindruckt. Claudius war sprachlos.

Aurora erzählte lachend, woher sie kam, verschwieg jedoch den wahren Grund ihres Besuches noch. Claudius war schlicht begeistert von Aurora. Die Herzlichkeit und die Wärme, welche sie ausstrahlte, nahmen ihn gefangen. Richard sah, wie sein Freund aufblühte, wie er sich aus seiner in sich gekehrten Haltung zu lösen begann.

Aurora entgingen die neugierigen Blicke der Männer nicht. Für einen Moment fühlte sie sich verunsichert. Sie schaute kurz an sich hinunter. Stimmte etwas nicht? „Das Kleid!“ fuhr es ihr durch den Kopf. Das glitzernde Kleid, das sie trug passte doch überhaupt nicht zum Wald, zum Lagerfeuer.

Oh Gott, oh Gott!

Dort ein Jäger, hier der Einsiedler, und sie sass mit einem Ballkleid hier. Das war ein Bild! Was hatte sie sich bloss gedacht dabei, in diesem Kleid den Marsch in den Wald zu unternehmen! Doch jetzt konnte sie auch nichts mehr ändern daran. Sie lehnte sich etwas zurück, um das Kleid ein wenig aus dem schwachen Schein des Lagerfeuers zu nehmen, und schaute in den Himmel. Die Sonne war nun schwächer geworden, und küsste die höchsten Baumwipfel zart mit ihrem rötlich gelben Licht.

Aurora hatte bis vor kurzem wie ein sprudelndes Bächlein geplaudert und war nun plötzlich still geworden. Richard nutzte die Pause und sagte: Wir erwarten eine vierte Person, dann essen wir. Es ist die Tochter von Claudius. Sie passt ausgezeichnet in unsere Runde. Du wirst Dich sehr gut mit ihr verstehen.“ Richard stand auf und begann, hinter einem Baum die Hasen vorzubereiten. Claudius unterhielt sich mit Aurora, und später setzten sie einen Topf Wasser auf das Feuer und begannen, Gemüse und Getreidekörner zu kochen.

 

 

Martina

 

Martina schaute sich in ihrer kleinen, hellen Wohnung um. Da gab es doch sicher noch ein paar Details aufzuräumen, bevor sie loszog.

Ein Seufzer entfuhr ihrer Brust, als sie sich bückte, um die Schnürsenkel ihrer schweren, hässlichen Wanderschuhe zu binden. Ein leises Zittern zog über ihre jungen Lippen hinweg. Wenn sie gegen Abend bei ihrem Vater sein wollte, sollte sie jetzt losziehen.

Sie stand auf. Hatte sie wirklich alles mit dabei in ihrem kleinen Rucksack: Salz und Zucker für ihren Vater und Teigwaren, alles war gepackt. Nur zögerlich schnürte sie die Öffnung des Sackes, hängte ihn an ihre Schultern und unternahm einen festen Schritt zur Wohnungstüre. Jetzt aber los.

Wieso bloss hatte sich ihr Vater so weit in den Wald zurückgezogen? Ein Haus am Waldrand hätte es doch auch getan, zum Beispiel bei den Höhlen am Felsen, dort hätte er genug Abstand vom Dorf gehabt, und sie von ihm auch.

Wieso gleich so tief in den Wald? Was gab es dort, was war dort so wichtig, dass er nun schon seit Jahren dort hauste?

Ein bisschen Neugierde verspürte Martina schon, als sie endlich ihr Haus verliess. Wenn bloss der mühselige Weg nicht wäre. Martina seufzte und marschierte los. Das Vogelhäuschen! Die junge Frau blieb wie angewurzelt stehen. Sie hatte den Vögeln heute noch gar kein Futter und Wasser bereitgestellt. Das tat sie doch jede Woche! Sie kehrte um und machte sich umständlich am Vogelhäuschen zu schaffen. Schliesslich stand sei mit leeren Händen in ihrem Garten. Nun fand sie keine weiteren Vorwände mehr, um den Abmarsch hinauszuzögern. Sie machte sich auf den Weg, liess Dorf, Fluss und Wiesen bald hinter sich und trat in den Wald.

Sie freute sich sehr auf das Wiedersehen mit ihrem Vater. Dennoch sträubte sich etwas in ihr gegen den Besuch. Sie wusste wohl, was es war: Zu oft stiess sie, wenn sie zur Hütte ihres Vater kam, völlig unvorbereitet auf ihr unbekannte Leute. Das war es, was sie zögern liess.

Martinas Schuhwerk passte nicht zu ihrem feinen, zierlichen Körper. Es machte ihre sonst so feinen Bewegungen plump und schwerfällig. Aber es passte zu den unscheinbaren, grauen oder braunen Kleidern, die sie zu tragen pflegte.

„Ich sehe ja aus wie die Bäume hier“, dachte sie sich. „Ich sollte eigentlich einmal etwas Fröhliches, Leuchtendes anziehen.“

 

Martina kannte den Weg zu ihrem Vater recht gut. Sie ging ihn jeden Monat. Aber bloss nicht vom Pfad abkommen, sonst würde sie sich rasch verlaufen. Sie mochte den Wald nicht. Die hohen, mächtigen Bäume nahmen ihr das Sonnenlicht und drohten, sie zu ersticken, zu erdrücken. Da war überhaupt keine Luft. Die Tannen liessen ihre wuchtigen, üppig bewachsenen Äste bis zum Boden reichen, und ein paar Meter über dem Pfad schienen sie sich fast die Arme zu reichen. Die Baumwipfel schaukelten sich gemächlich im Wind, nur ungern gaben sie den Blick auf den tagblauen Himmel frei, nur um ihre buschigen Hüte weit über Martinas Kopf immer wieder von neuem zusammenzustecken.

 

Die junge Frau kam flott voran. Der Weg war trocken. In regelmässigen Abständen machte sie Rast, um sich etwas auszuruhen und um Wasser an den zahlreichen Brunnen zu trinken. Sie war froh, als sie schliesslich die grosse Lichtung erreichte. Hier fühlte sie, dass sie endlich tief durchatmen konnte. Endlich hatte sie etwas Luft. Die Lichtung befand sich auf einer Anhöhe, welche nach Norden hin einen weiten Ausblick über das Pflanzenmeer bot. Mitten im Grün sah sie eine dünne Rauchsäule aufsteigen. Bis zu ihrem Vater war es nun nicht mehr weit. Sein Lagerfeuer brannte bereits, er erwartete sie.

Nun merkte sie, dass sie sich wirklich auf den Besuch beim Vater freute. Die letzte Stunde Weg fiel ihr leichter. Der Wald wirkte nun auch nicht mehr so erstickend auf sie.

 

Martina konnte den Duft von gebratenem Wild und Waldgewürzen schon von weitem riechen. Das Wasser lief ihr ihm Mund zusammen. Lange bevor sie das Lagerfeuer sehen konnte, hörte sie drei Stimmen angeregt miteinander schwatzen. Das Echo der Stimmen widerhallte fein von den Stämmen. Fast schien es, als ob die Bäume miteinander sprächen. Ihr Vater war einmal mehr nicht allein!

Martinas Schritte verlangsamten sich. Sie wurde unsicher. Sie war nicht darauf vorbereitet, jemanden ausser ihrem Vater anzutreffen. Wer diese Leute wohl sein mochten?

Sie blieb hinter einem Baum versteckt stehen und versuchte, durch die Äste und Sträucher hindurch auf das Lager zu schauen. Am liebsten wäre sie sofort umgekehrt. Doch dafür war es zu spät, sie würde nie und nimmer vor Anbruch der Dunkelheit zurück im Dorf sein.

Obwohl sie nicht menschenscheu war mochte sie es nicht, unvorbereitet auf fremde Leute zu treffen, sich mit Unbekannten auseinandersetzen zu müssen. Und jetzt ausgerechnet hier, im Wald, wo sie sich doch gerne wieder einmal mit ihrem Vater alleine ausgetauscht hätte.

Vorsichtig trat sie näher, nun konnte sie erkennen, dass eine der Stimmen einer bezaubernden Frau gehörte, die ein wunderschönes Kleid trug. Ihrem Vater gegenüber sass ein Jäger, den sie schon ab und zu gesehen hatte.

Schliesslich gab sich Martina einen Ruck und stiess zur Gruppe. Sie wurde freundlich empfangen.

Claudius sprang sofort auf, als er seine Tochter erkannte. Er lief zu ihr, umarmte sie lange und zog sie mit zum Lagerfeuer.

 

 

 Die Masken

 „Hallo Martina“, rief Richard ihr fröhlich zu. Der herzliche Empfang beeindruckte sie und nahm ihr die Unsicherheit. Ihr Blick fiel auf die unbekannte Frau, sie fühlte sich sofort zu ihr hingezogen. Sie war wunderschön, und ihr Kleid glitzerte fröhlich, bei jeder kleinen Bewegung liess es einen Funkenregen sprühen. Martina war sofort überwältigt vom Anblick.

„Ich heisse Aurora“, stellte sich die Fremde vor. Sprachlos reichte ihr Martina die Hand. „So schön möchte ich auch sein“, dachte sie und reichte ihr geistesabwesend die Hand. Ihr sehnsüchtiger Blick verriet alles.

Claudius unterbrach die Stille: „Setz’ Dich hin, meine Liebe. Wir wollen essen.“ Und Aurora fügte an: „Ich denke, ich habe nach dem Mahl eine Überraschung für Dich!“

Sie verschwand kurz in der Hütte, und als sie wieder heraustrat, trug sie einfach Leinenhosen und ein schlichtes Hemd. Claudius beobachtete sie. Sie hatte kein bisschen von ihrer Ausstrahlung eingebüsst. Nun funkelten ihre Augen, und es schien ihm, als würden ihre Hände leuchten. Martine strarrte erst Aurora an, dann warf sie einen sehnsüchtigen Blick auf die Hütte. Dort lag nun das Kleid, das sie so gerne tragen würde! Jetzt, da es Aurora doch offensichtlich nicht mehr brauchte! Doch sie wagte nicht, etwas zu sagen.

Claudius riss Martina aus ihren Träumen. „Kommt, jetzt wollen wir endlich essen.

Die beiden Hasen schmeckten den vier Freunden köstlich, alle assen sie mit grossem Hunger und Genuss.

Zwischendurch blickte Martina verstohlen zu Richard. Diese wunderschönen Augen. Eine starke Anziehungskraft ging von ihm aus. Sie wagte kaum, ihn direkt anzuschauen. Die meiste Zeit sah sie jedoch Auroras Kleid vor ihren Augen.

Kaum hatten sie fertig gespeist, da erhob sich Aurora und sagte: „Komm’ mit, Martina, ich denke, ich habe da etwas für Dich!“

Sie ging zur Hütte, Martina folgte ihr. Als sie kurze Zeit später wieder heraustrat, trug sie ein zauberhaftes Kleid. Es ähnelte jenem von Aurora, bloss etwas dunkler war es, und es glänzte mehr, als dass es leuchtete und glitzerte.

Martina war überglücklich, sie fühlte sich wohl wie nie zuvor, am liebsten hätte sie die ganze Welt umarmt. Das Kleid fühlte sich an wie eine zweite Haut, und es liess ihren ganzen Körper kribbeln. Sie fühlte, wie es sie grösser und heller machte, sie spürte, wie sie strahlte. Sie tat fünf Schritte, drehte sich ein paar Mal im Kreis, liess ihre nackten Füsse über den weichen Fussboden gleiten. Die feuchte Erde und die Tannennadeln kitzelten angenehm an ihren Füssen. Es schien, als würden ihre Fussstapfen einen Moment lang glitzern. Sie trat zu ihrem Vater und umarmte ihn fest.

Er fühlte, wie die Lebensenergie seiner Tochter auf ihn übersprang. Seine künstliche Zwergenhaut begann, ihn einzuengen. Er richtete sich auf, und dabei merkte er, wie ein paar Nähte an seiner Hose platzten, und seine Jacke sprengte ein paar Knöpfe weg.

Erstaunt und erleichtert zugleich beobachtete Martina, wie ihr Vater richtiggehend zu wachsen begann. Er zog seine Jacke und seine Überhose aus und warf sie in hohem Bogen ins Feuer. Mit zwei kräftigen Kickbewegungen beförderte er seine Zwergenstiefel ebenfalls in die Flammen.

„Jetzt fehlt nur noch der Bart!“, sprach er, verschwand in der Hütte und kam kurze Zeit später frisch rasiert zur Gruppe zurück.

 

Endlich fühlte er sich frei, und es fühlte sich wunderbar an. Er genoss es, hier zu sein, frei und von Freunden umgeben.

Er setzte sich wieder in den Kreis und schaute Aurora mit geschlossenen Augen an. Das Licht, die Ausstrahlung, welche von ihr ausging, überwältigte ihn vollkommen. Er war dieser Energie, dieser Liebe vollkommen ausgeliefert, und er liess es einfach geschehen. Sie füllte seinen ganzen Körper, seine Brust wurde ganz weit, sein Herz glühte. Er atmete ganz tief. Ihm wurde beinahe schwindlig, sein Puls raste, das Herz pochte wie wild, am liebsten hätte er laut gejauchzt. Wie aus der Ferne hörte er das Lachen seiner Begleiter. Er musste aufstehen, er musste sich bewegen. Er wollte tanzen.

Claudius sprang auf und riss seine Tochter hoch: „Komm’, wir tanzen“, rief er ihr zu, und sie folgte ihm verdutzt.

Sie selbst hatte es in ihrem neuen Kleid auch fast nicht mehr ausgehalten, konnte auch fast nicht mehr ruhig sitzen bleiben. Sie hatte bloss nicht den Mut gehabt, aufzustehen und zu tanzen, das neue Kleid mit Bewegung zu füllen. Nun tanzte sie nahezu schwerelos, schien fast zu schweben. Sie fühlte sich frei und leicht, endlich war Martina sich selbst.

 

Richard verfolgte das Ganze interessiert. Er hatte beobachtet, welchen tiefen Eindruck Aurora bei Claudius hinterlassen hatte. So hatte er seinen alten Freund seit Jahren nicht mehr gesehen. Er dachte sich, dass Claudius ein bisschen Schützenhilfe brauchen könnte, erhob sich langsam, trat zu Aurora, reichte ihr seine Hand und forderte sie zum Tanz auf.

Die beiden Paare tanzten sanft, die Flammen liessen die Schatten der Menschen an den Bäumen weiter tanzen, es schien, als würden sich Dutzende von Personen in der Lichtung bewegen.

Nach einer Weile lösten sich die Paare, jeder tanzte für sich alleine weiter. Richard schaute in die Flammen und versuchte, die Bewegungen des Feuers nachzuahmen.

Dann bewegte er sich zu Martina und nahm ihre Hand. Behutsam zog er sie zu sich. Sie liess sich gerne führen, und sie genoss ihre Bewegungen im neuen, glänzenden Kleid. Sie fühlte sich wohl wie nie zuvor in ihrer neuen Haut.

Claudius und Aurora kamen einander immer näher. Er sog die Frau förmlich in sich auf, er liess sich in Auroras Licht treiben wie ein Floss auf dem Meer, und sie fühlte sich endlich wieder verstanden und gut aufgehoben.

Hier konnte sie sich gehen lassen, hier konnte sie sich selbst sein.

 

Als erster bemerkte Richard, dass das Feuer müde geworden war. Das Holz hatte sich in glühende Kohle verwandelt, nur noch vereinzelt züngelten rote und blaue Flammen hoch. Rasch verschwand er im Wald und kehrte bald mit dürren Ästen zurück, die er in die Glut legte.

Martina hatte sich in der Zwischenzeit ans Lagerfeuer gesetzt. In ihrem Inneren tanzte sie weiter. Richard gesellte sich zu ihr. Er legte den Bogen um seine Schulter und nahm das Gewehr an seine Seite. Claudius und Aurora lösten sich voneinander und setzten sich ebenfalls hin.

Das Feuer hatte rasch wieder an Kraft gewonnen, es erhellte die Gesichter. Richard beobachtete die Runde eine Weile und sagte dann ruhig und ernst: „ Ihr alle habt Eure Masken abgelegt heute Abend. Das ist gut so, es freut mich. Claudius, Du zeigst nun Deine wahre Grösse. Martina du zeigst Deinen Glanz und Aurora, Du lässt Dein wahres Licht scheinen. Ich fühlte mich wohl bei Euch, es ist wunderbar, dass wir hier zusammen gefunden haben.“

Es dauerte lange, bis er merkte, dass er von seinen drei Kameraden mit fragenden Gesichtern angestarrt wurde.

Schliesslich fragte ihn Aurora: „Und Du, Jäger, wann legst Du Deine Maske ab?“

Richard traf die Frage völlig überrascht: „Wieso, ich bin doch ich selbst?“ Die letzten beiden Worte klangen leiser, unsicher.

„Ich sehe in Dir einen jungen Weisen“, sagte Martina.

„Ich sehe das zweite Gesicht, den zweiten Blick in Deinen Augen“, ergänzte Aurora.

„Es ist an der Zeit“, meinte Claudius.

Richard war verwirrt. Er nahm seinen Bogen und das Gewehr und brachte sie in die Hütte. Als er wieder ans Feuer trat, zog er seine Jägerjacke aus. Ein seltsames, angenehmes Licht ging nun von ihm aus, und seine Bewegungen wirkten jetzt viel ruhiger, runder und vollendeter.

 

 

Das Licht

 

Aurora blickte in die Runde und sagte ernst: „ich will wissen, wieso ich hier bin. Ich will wissen, woher das Licht in meinen Händen stammt.“

Das Feuer erhellte die Gesichter, die umliegenden Bäume und sogar die Hütte im Hintergrund stark und gleichmässig. Für einen Moment schienen die Flammen nicht zu flackern. Eine unbekannte Lichtquelle schien den Ort für einige Sekunden lang zu beleuchten.

Claudius und Richard schauten einander lange und nachdenklich an. Sollte jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen sein? War es jetzt, nach langen Jahren, erneut an der Zeit, das grosse Geheimnis des Landes zu lüften? Beide spürten sie, dass dem so war. Aber beide zögerten sie. Nervös waren sie, aufgeregt, sie hatten Angst vor der Verantwortung.

Richard schaute in die Runde. Er wusste, dass er nicht alleine war. Er wusste, zusammen würden sie es erreichen können. Zusammen würden sie finden können, wonach Aurora so sehnsüchtig gesucht hatte.

Ruhig sprach er zu ihr: „Aurora, Du weißt, du spürst tief in dir, wo Du das Gesuchte findest. Dein inneres Wesen hat Dich hierhin, zu uns geführt. Zögere nicht, hab’ keine Angst. Führ’ uns zum Ort.“

Aurora erschrak. Wieso sie? Wieso immer sie? Sie wollte diese Verantwortung nicht tragen, sie wollte diese Bürde nicht übernehmen müssen. Sie fühlte sich plötzlich alleine, im Stich gelassen. Ausgerechnet jetzt, wo sie auf eine Gruppe Gleichgesinnter, Suchender gestossen war, auf eine Gruppe, in der sie sich wohl und aufgehoben fühlte, wurde sie wiederum mit dieser Riesenlast konfrontiert. Was, wenn sie etwas falsch machte? Warum war niemand da, der sie führen konnte, der ihr half? Wie sollte sie die Gruppe führen können, wenn sie selber doch auch im Dunkeln tappte?

Mit schwerer Stimme antwortete sie: „Nein, bitte nicht. Ich will das nicht.“ Sie schaute dabei verzweifelt, traurig ins Feuer, aber Richard konnte die Tränen in Ihren Augen erkennen.

Er entschuldigte sich ruhig; „Es tut mir leid, meine Gefährtin, ich wollte Dich nicht unter Druck setzen. Das war ein Fehler. Wir fahren zusammen fort, und wir unterstützen uns gegenseitig.“

Er blickte abwechselnd Claudius und Martina an, als er fortfuhr: „In diesem Wald gibt es einen geheimen Ort. Claudius und ich kennen ihn schon seit vielen Jahren. Wir hüten und beschützen ihn. Wir haben gespürt, dass es bald an der Zeit sein würde, den Ort aufzusuchen und das Licht zu zeigen. Trotzdem sind wir jetzt überrascht, dass es bereits soweit ist.“ Er machte eine lange Pause und sagte schliesslich: „Folgt mir, es ist nicht weit.“

Richard stand auf, ging zur Hütte und holte vier einfache Fackeln: Äste, die mit harz-, wachs- und ölgetränkten Lumpen umwickelt waren. Er zündete sie am Lagerfeuer an und marschierte voran in den Wald. Dabei erklärte er, dass sie ein kurzer Fussmarsch über ein paar sanfte Anhöhen erwartete. Sie folgten einem schmalen, kaum erkennbaren Wildwechsel.

Als die Gruppe die letzte Anhöhe überwunden hatte, wurde sie unvermittelt von einem hellen, blauen Licht umhüllt. Das Licht war stark, aber angenehm. Es überraschte die vier Freunde, denn noch als sie oben auf der Anhöhe standen, hatten sie seinen Schein nicht bemerkt.

Richard erklärte: „Man sieht es erst, wenn man in seinem Kreis drin steht. Und man nimmt es nur dann wahr, wenn man seine Maske abgelegt hat. Es ist Jahre her, Jahrzehnte, seit ich es das letzte Mal gesehen habe, obwohl ich immer genau wusste, wo es war. Ich hatte es irgendwie aus den Augen verloren.“

Claudius nickte zustimmend. „Es ist schwierig, immer auf das Licht vorbereitet zu sein. Aber Du, Aurora, Du trägst es immer bei Dir.“

Aurora schaute in die Runde und atmete tief durch. Sie sog das Licht dankbar in sich auf. „Ich bin das Licht. Ich bin nicht allein und ich darf um Hilfe bitten“, sagte sie langsam.

Martina fuhr mit ruhigen Worten fort: „Ich bin! Und ich bin der Glanz. Ich darf mich in meinem Glanz zeigen.“

Ihr Vater fügte an: Und ich bin die Grösse. Ich brauche mich nicht zu verstecken.“

Richard umarmte das Licht, umarmte seine Freunde und ergänzte ergriffen: „und ich bin die Weisheit. Ich brauche nicht perfekt zu sein.“

 

Sie genossen das Licht. Es schien nun, als würden ihre Hände, ihre Köpfe ebenfalls leuchten, als käme das Licht aus ihren Körpern und würde die umliegenden Bäume beleuchten. Schaute man hingegen die Bäume an, schienen sie es zu sein, die leuchteten. Eigentlich leuchteten sogar die Tannennadeln und Buchenblätter am Boden.

Aurora bestaunte ihre Hände. Sie fühlten sich nun leichter an. Eine Riesenlast war von ihren Schultern gewichen: „Ich bin nicht allein, ich brauch die Verantwortung nicht alleine zu tragen“. Ihr Herz lachte, und dicke Tränen der Erleichterung kullerten über ihre Wangen.

„Ja,“ antworteten die Anderen. „Wir sind nicht allein.“

Langsam und sanft begann das Licht sich aufzulösen. Es küsste die vier Freunde ein letztes Mal und vermischte sich dann mit dem roten Gold der Morgendämmerung. Ein neuer, wundervoller Tag brach an.