Ilocos ist immer grün

 

Mikie lag auf der Picknick-Decke und schaute in den sommerblauen Nachmittags-Himmel. Ein perfekter Tag: Wochenende, schönes, warmes Wetter, kein Wölklein am Himmel. Waldvögel pfiffen und Hummeln brummten, ein sanfter Wind kräuselte die Föhrenwipfel, die  Brennnesselstauden und die Brombeer-Ranken in der Waldlichtung.
Kuchenbrösel auf der Picknick-Decke.

Ein stinklangweiliger Tag für einen achtjährigen Jungen.
Wenn da nicht eine gelblich weisse, schnurgeradene Linie das Blau durchzogen hätte.
Gebannt schaute Mikie jeweils, wie sie von feinen, silbergrauen Stiften an den Himmel gezogen wurden. Manchmal konnte man sogar die Flügel erkennen, oft sah man nur den Rumpf, vielfach schien aber eine Zauberhand die hellen Striche zu zeichnen. Und eine zweite Zauberhand liess sie ein paar Handbreit weiter ausflocken, um sie schliesslich ganz aus dem blauen Hintergrund zu radieren. 

„Wohin reist dieses Flugzeug, Papi?“, fragte er rasch. Sein Vater kniff die Augen zusammen, beobachtete die Linie konzentriert, schaute auf die Uhr, streckte die Hand nach Süden aus, um sich zu orientieren.
„Es fliegt nach Manila.“, antwortete er. Der Vater kannte sich offensichtlich aus, hatte den ganzen Flugplan im Kopf. Die Maschinen flogen jeweils nach New York, Lima, Rio de Janeiro, Kairo, Sydney oder eben Manila.
Die Flugzeuge nach Norden mussten wohl eine Route wählen, die ausserhalb Mikies Blickfeld lag.
Gebannt starrte der Junge der Linie nach. Auch diesmal befiel ihn, überfiel ihn ein eigenartiges, heftiges Fernweh. Er wollte fort, wollte all die Menschen kennen lernen, die dort lebten.
New York, Lima, Rio, Kairo, Sydney, Manila. Er kannte all diese Städte und ihre Länder sehr gut. In Bildbänden, Landkarten und Atlanten hatte er sie kennengelernt, wusste über Klima und Leute Bescheid. Aber das reichte nicht.
Er tauchte hilflos und dankbar in dieses Fernweh ein, liess sich in ihm treiben. Er war ihm ausgeliefert, konnte ihm nicht ausweichen, es zog ihn einfach mit. Es riss und zerrte, tat weh, aber es barg Hoffnung, es versprach etwas. Mikie hatte ein Ziel.

Jahre später stapfte Mike durch die nassen Strassen einer kleinen Stadt auf den nördlichen Philippinen. „Hi mate“ wurde er überall freundlich gegrüsst. Wenn man alleine reist, ist man niemals einsam.

Doch nun wollte er die freundlichen, gutgelaunten Gesichter hinter sich lassen, er wollte ans Ziel kommen, dorthin, wo ihn sein Fernweh gelockt hatte, er wollte die stille Weite der Welt kennen lernen. Hier, ausserhalb der Stadt, in der Einsamkeit des tiefgrünen, üppigen, dampfenden Bergwaldes.
Eine Stunde Fussmarsch bracht ihn weit ab der Ortschaft und der ihr vorgelagerten Häuser. Die schmale Strasse umarmte sanft einen Hügelrücken, Mike blieb stehen und genoss die herrliche Aussicht auf die Täler, die Hügel, das Wäldermeer. Er lauschte aufmerksam in die Stille hinein, hörte den Urwald atmen, beobachtete die aufsteigenden Nebelschwaden, sah, wie sie sich auflösten. Kein von Menschen gemachtes Geräusch störte mehr den Urwald.
Ein unsichtbarer, warmer Hauch streifte Mike, durchdrang ihn. Er begann zu zittern und beobachtete hilflos, wie ihn urplötzlich eine tiefe, urgründige Angst überkam. Er fühlte sich alleine, unvermittelt drohte sein Herz in dieser einsamen Verlassenheit zu verglühen.

Alles brach zusammen. Nun, da er nach jahrlangem Suchen endlich das Ziel seines Fernwehs gefunden hatte, stürzte alles in sich zusammen, löste sich in Nichts auf.
Ein Klotz steckte in Mikes Hals, nur mühsam vermochte er zu vermeiden, dass er losheulte.
Mike war alleine.

„Hi mate“. Ein älterer Mann war wie aus dem Nichts erschienen, Mike hatte ihn nicht die Bergstrasse hinauf kommen gehört, er schaute den Einheimischen erstaunt an, erforschte sein ledriges, braunes Gesicht, den schmalen Mund, die breite Nase und die dunkeln, leuchtenden Augen.
„Ueberrascht darüber, was Du gefunden hast?“, fragte der Mann.
„Nun… ja…“, stotterte Mike trocken. Seine Stimme war spröde, seine Sprache war wortlos. Wie hätte er ihm erklären können, was in ihm vorging, wonach er all die Jahre gesucht hatte? Und wie hätte er ihm das abgrundtiefe Loch erklären können, in das er nun gefallen war?“
Doch der alte Mann brauchte keine Erklärung. Er hatte wohl sein ganzes Leben in diesem Dorf, in diesem Tal verbracht, hatte die weite Welt nie gesehen. Vielleicht war er ein paar Mal am Meer gewesen, an der rauen, schmalen Küste. Dennoch wusste er Bescheid.

„Du hast bloss ein bisschen am falschen Ort gesucht. Aber das ging mir auch so. Das passiert uns allen.“ Dein Fernweh hat Deine Suche weit weg vom Ziel geleitet. Es war so stark, dass Du ihm folgen musstest. Und nun bist Du dort angekommen, wo Du hin musstest. Dein Ziel war aber nicht der Bergwald von Ilocos, dein eigenes Inneres.
Und nun fürchtest Du Dich vor Deiner eigenen inneren Leere. Du bist in ein dunkles Loch gefallen, das weit tiefer ist als die Schlucht unter Dir.
Aber jetzt, da Du dies erkannt hast, kannst Du beginnen, deine eigene Leere aufzufüllen und kannst die Reise zu Dir selbst antreten. Diese Reise wird Dir gefallen.“

Mike lehnte sich an die feuchte, nackte Erde des Hangs am Wegrand. Ihm war schwindlig. Die Worte des alten Mannes hallten in seinem Kopf, in seinem Herz und in seinem Bauch nach. Er wollte dem Einheimischen etwas antworten, doch als er aufsah, war dieser verschwunden.